40 Jahre Schengen – mehr davon!
Seit 40 Jahren genießen die Europäer Freizügigkeit durch den Schengen-Pakt. Die Idee des vereinten Kontinents hat allerdings momentan einen schweren Stand. Dabei brauchen wir gerade jetzt mehr Europa und nicht weniger.
Als Vorstandschef bin ich viel auf Achse. Hier Mitarbeitende treffen, da Kunden besuchen, dort auf Konferenzen sprechen – auch in Zeiten von Online-Meetings ist und bleibt der persönliche Kontakt vor Ort für mich ein Muss.
Besonders gern reise ich in Europa, schon allein aus einem ganz praktischen Grund: Es geht meist so schön unkompliziert. Keine langen Grenzkontrollen, keine mühseligen Zollabfertigungen – das ist, zumindest bisher, das Privileg für über 400 Millionen Menschen und unzählige Unternehmen in 29 europäischen Ländern.
Zu verdanken haben wir das einem mutigen Schritt vor 40 Jahren: Dem (ersten von mehreren) Schengener Abkommen, das am 14. Juni 1985 im gleichnamigen Mosel-Örtchen von Politikern aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden unterzeichnet wurde und zehn Jahre später in Kraft getreten ist.
Freier Verkehr von Personen, Waren und Dienstleistungen – dies zählt seither zu den Grundbausteinen eines geeinten Europas, das in der Folge mit Europäischem Binnenmarkt und Euro-Zone weiter konkretisiert worden ist.
Einheitsgedanke wird konterkariert
Im Moment wird diese Vision allerdings stark herausgefordert. Im Innern durch nationalen Egoismus, Erosion der Rechtsstaatlichkeit, Einschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit. Von außen durch Provokationen, Propaganda und Migrationsdruck. Wiedereingeführte und ständig verlängerte Kontrollen an vielen Binnengrenzen – eigentlich nur vorübergehend und als letztes Mittel gedacht – drohen die Schengen-Idee zu konterkarieren. Und könnten im Grunde die gesamte europäische Integration aus den Angeln heben, mit unabsehbaren Folgen für die Mitgliedsnationen wie für Millionen Menschen und viele Staaten außerhalb.
Dabei brauchen wir gerade jetzt nicht weniger, sondern mehr Europa. Einen weltoffenen, vielfältigen, toleranten Kontinent. Auch und besonders im Sinne einer starken Wirtschaft und Industrie. Während anderswo auf der Welt Zollschranken errichtet oder umgekehrt Waren zu Dumpingpreisen feilgeboten werden, gilt es, den innereuropäischen Handel auszuweiten.
Denn der Binnenmarkt ist ein klarer Erfolg: Dadurch wurden das Bruttoinlandsprodukt der EU um mindestens drei bis vier Prozent gesteigert und 3,6 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Und mit einer Vervollständigung des einheitlichen Marktes könnten sich nach Einschätzung der Europäischen Kommission die bereits erzielten Zuwächse sogar noch einmal verdoppeln.
Binnenmarkt weiter stärken
Da trifft es sich gut, dass die Behörde nun eine Strategie vorgelegt hat, um den Markt zu vereinfachen, zu harmonisieren und zu stärken. Besonders der Fokus auf die „schrecklichen Zehn“ – die gravierendsten Hindernisse für den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr, die es vordringlich zu beseitigen gilt – kündet von einem neuen Pragmatismus und Dringlichkeitsbewusstsein in Brüssel.
Das ist auch im Umgang mit „meiner“ Branche zu beobachten, der Chemieindustrie in Europa. Sie steht weltweit an zweiter Stelle und ist mit über 650 Milliarden Euro Umsatz, gut zehn Milliarden Euro an Forschungsinvestitionen und 1,2 Millionen Beschäftigen ein wichtiger Treiber für Wertschöpfung und Wohlstand.
Aber: Seit langem verliert der Sektor international an Wettbewerbsfähigkeit. Paradoxerweise auch und besonders durch den Alltag im europäischen Haus. Ein Übermaß an Gängelung mit teils gegenläufigen Vorschriften, langwierige Verfahren und viel zu hohe Energiekosten bremsen uns aus. Nun will Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Kürze einen speziellen Aktionsplan für die Chemie mit strukturellen Reformen vorlegen – das gibt Anlass zur Hoffnung.
Doch wir dürfen den schwarzen Peter nicht nur nach Brüssel schieben. Der Binnenmarkt, der Schengen-Pakt, die gesamte EU – sie gründen auf Solidarität, sie leben vom Gemeinsinn. Dieser darf nicht noch weiter abhandenkommen. Jedes Mitgliedsland, alle Bürgerinnen und Bürger und auch die Wirtschaft und ihre Unternehmen sind gefordert, sich einzubringen. Um das gemeinsame europäische Haus fertigzustellen, smart, wetterfest und offen.