Grün und Grips – die EU muss ihre Stärken stärken
Nachhaltigkeit, Offenheit, Innovation: Das sind die Asse, mit denen die EU auftrumpfen muss im globalen Kräftespiel. Hier wird sie mehr denn je gebraucht – als Hort von Stabilität, als Garant von Wohlstand und Wohlergehen, als Gestalter der Zukunft.
Vor 80 Jahren ist in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen, der bislang größte und blutigste Konflikt in der Menschheitsgeschichte. Die vielen Gedenkfeiern dieser Tage mahnen eindringlich, wohin Gewalt und Terror führen können. Sie künden aber auch davon, dass Europa mit der EU inzwischen für einzigartiges Friedensprojekt steht, das einstige Feinde wie Deutschland und Frankreich eng zusammengeführt hat. Gelebte Völkerverbindung – wichtig wie nie in Zeiten von wachsendem nationalem Egoismus und machiavellistischem Gebaren.
Aber die EU, auf deren Erfolge der jährliche Europatag am 9. Mai hinweist, wird nicht nur als Hort von Verständigung, Stabilität und Berechenbarkeit gebraucht. Sie steht auch als Paradebeispiel für Wohlstandsmehrung durch Offenheit und Vernetzung. So ist die Wirtschaftsleistung im europäischen Binnenmarkt in den drei Jahrzehnten seines Bestehens im Schnitt um acht bis neun Prozent gewachsen. Anders gewendet: Ohne die EU wäre das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in vielen Mitgliedstaaten deutlich geringer. In Frankreich vier, in Deutschland gut fünf, in den Niederlanden gar an die acht Prozent.
Denken ohne Schranken
Ein Europa ohne Grenzen: Das ist für mich aber noch viel mehr als der freie Austausch von Waren und Dienstleistungen. Für mich bedeutet die Gemeinschaft der 27 insbesondere auch schrankenloses Denken. Die Offenheit für neue Ideen und Erfahrungen. Die Freude an Austausch und Diskussion. Die Freiheit von Forschung und Lehre. Auch dies Errungenschaften, die es zu hegen und pflegen gilt. Umso mehr, als andernorts die Wissenschaft und etablierte Medien einen schweren Stand haben, ebenso wie die Themen Klima- und Umweltschutz.
Das bringt mich vom Lob auf die Europäische Union zum Impuls, wie und wohin sie sich weiterentwickeln muss – nämlich genau auf diesen Feldern: Nachhaltigkeit, Offenheit und Innovation. Ihnen gehört die Zukunft!
Nachhaltigkeit: 2024 hat uns als wärmstes je gemessenes Jahr noch einmal eindringlich vor Augen geführt, dass im Klimawandel eine der größten Bedrohungen der Menschheit liegt. Nicht zuletzt aus Sicht des Homo oeconomicus. Denn wenn wir jetzt nicht handeln, kommt es uns später umso teurer zu stehen. So könnte die Weltwirtschaft durch den Klimawandel einer Studie zufolge bis 2050 Einkommensverluste von 19 Prozent erleiden – sechs Mal mehr als die Vermeidungskosten, um die Erderwärmung auf zwei Grad zu begrenzen.
Die EU sollte sich also tunlichst weiter zu einem Zentrum für das entwickeln, was in Zukunft immer begehrter wird: grüne Technologien und Produkte. Mit dem Clean Industrial Deal ist die EU-Kommission, nach anfänglichem Übereifer, hier jetzt auf dem richtigen Weg – indem sie das Ziel der Klimaneutralität mit der Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und dem Eintreten für eine starke Industrie verbindet.
Industriefreundlicheres Umfeld schaffen
Die Stärkung der industriellen Basis ist auch dringend nötig. Im Chemiesektor etwa, dem viertgrößten Industriezweig in der EU, mussten allein in den vergangenen beiden Jahren auch wegen zahlreicher ungünstiger Rahmenbedingungen mehr als elf Millionen Tonnen Produktionskapazität eingestellt werden. Dabei ist gerade die Chemie- und Kunststoffbranche enorm wichtig für intelligente Nachhaltigkeitslösungen.
Was mich zum Punkt Innovation bringt. Auch hier hat die Kommission die Zeichen der Zeit offenbar erkannt, will die Forschung in Europa mit einer weiteren halben Milliarde Euro stärken und Wissenschaftler von anderswo anlocken. Hoffentlich finden sie ein geistiges Klima vor, in dem unterkomplexer Populismus, Freund-Feind-Schemata und Autokratie-Anfälligkeit nicht weiter um sich greifen.
Als Ideenschmiede hervorstechen und Kurs halten auf Nachhaltigkeit – damit ist schon viel gewonnen. Wenn dann noch die wirtschaftspolitischen Stellschrauben justiert werden – niedrigere Energiepreise, weniger Bürokratie und Mikromanagement, mehr internationale Partnerschaften – ist mir um Europa und seine Industrie nicht bange.