Das energiepolitische Dreieck zurechtrücken
Gefährliche Schieflage im Energiesystem: Während der Ausbau der Erneuerbaren in Deutschland inzwischen sichtlich vorankommt, sind die Versorgungssicherheit fraglich und die Preise viel zu hoch. Die Energie-Architektur muss neu justiert werden.
Merkwürdige Diskrepanz. Auf der einen Seite strotzt die Energiewirtschaft vor Dynamik. Vor ein paar Tagen ist die E-World in Essen mit neuen Rekorden zu Ende gegangen. Europas Leitmesse auf diesem wichtigen Sektor hat ein Feuerwerk an Innovationen gezündet, das mich sehr beeindruckt. Zugleich wird Deutschland seinem Ruf als Treiber der Energiewende gerecht: Fast 60 Prozent des Stroms stammen hierzulande inzwischen aus erneuerbaren Quellen.
Doch auf der anderen Seite hat sich im Energiesystem eine Schwerfälligkeit breit gemacht, die das energiepolitische Zieldreieck in Schieflage bringt. Im Moment besteht es aus einer ausgeprägten Hypothenuse “Umweltverträglichkeit”, während die Katheten “Versorgungssicherheit” und “Wirtschaftlichkeit” arg kurz daherkommen.
Ich sehe hier ein Ungleichgewicht, das energieintensiven Industrien wie der Chemiebranche schadet. Stichwort Versorgungssicherheit: Der Sektor ist jetzt und noch viel mehr in Zukunft auf die zuverlässige Bereitstellung von großen Mengen – klimafreundlich produziertem – Strom angewiesen, um Prozesse zu elektrifizieren und Prozesswärme klimaneutral zu erzeugen.
Doch Unwägbarkeiten drohen nicht nur Morgen und Übermorgen. Bereits heute gerät der Sektor wegen der international nicht wettbewerbsfähigen Energiepreise in Existenznot: Strom ist in Deutschland bis zu fünfmal, Gas gar bis zu siebenmal teurer als an konkurrierenden Standorten anderer Länder. Unter Wirtschaftlichkeit verstehe ich etwas anderes.
Strommarktdesign aus einem Guss
Höchste Zeit also, das Energie-Dreieck zurechtzurücken. Die Bundestagswahlen können und müssen dafür die Initialzündung sein. Nötig ist ein neues tragfähiges Gesamtkonzept in der Energie- und Klimapolitik. So braucht es ein Strommarktdesign aus einem Guss, um den Ausbau von Netzen, Speichern und Reservekraftwerken rasch voranzutreiben. Zudem müssen die Erneuerbaren besser ins Stromsystem integriert und kluge Reformen im Bereich der Netzentgelte eingeleitet werden. Denn gerade die chemische Industrie kann ihre Produktion nur sehr begrenzt flexibilisieren.
Und auch die bezahlbare Versorgung mit (nachhaltigen) Rohstoffen wie Wasserstoff, Biomasse, Rezyklaten und CO2 muss sichergestellt werden. Dazu ist unter anderem eine überzeugende Strategie zur Einspeicherung und Nutzung von CO2 nötig – hier schaffen viele unserer europäischen Nachbarn bereits Tatsachen.
CO2-Preis als Steuerungselement
Vor allem aber muss die Transformation so effizient und kostengünstig wie möglich erfolgen. Dafür kommt in meinen Augen am besten ein technologieneutrales zentrales Steuerungselement infrage – und zwar ein einheitlicher CO2-Preis im Rahmen des europäischen Emissionshandelssystems. Auf diese Weise ließen sich Klimaneutralität und Energiewende zu den niedrigsten CO2-Vermeidungskosten auf Basis marktwirtschaftlicher Spielregeln erreichen.
Nun wird es sicher eine Zeit dauern, bis grundlegende Reformen greifen. Bis dahin darf die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie aber nicht weiter erodieren. Kurzfristig gilt es, da zu handeln, wo der Leidensdruck, aber auch die Handlungsmöglichkeiten besonders groß sind: bei den Stromkosten. Hier liegen viele sinnvolle Vorschläge auf dem Tisch. Etwa die Deckelung der Übertragungsnetzentgelte durch zeitweilige Querfinanzierung aus dem Bundeshaushalt. Oder die dauerhafte Senkung der Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß.
Hier muss die nächste Bundesregierung entschlossen agieren, um die Industrie zu erhalten und zu kräftigen. Denn ohne eine starke Industrie sind nicht nur Wachstum und Wohlstand bedroht. Ohne sie ist auch die angestrebte Klimaneutralität unseres Landes nicht schaffen. Und die wiederum ist auch aus Wettbewerbsgründen essenziell. Denn erneuerbaren Energien und nachhaltigen Zukunftstechnologien gehört die Zukunft. Und Deutschland sollte sein Know-how hier zum Exportschlager machen.
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